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Nationale Stadtentwicklungspolitik

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Vier verschiedene Seile sind an einem Metallring befestigt.

„Wir alle verkörpern diese transformative Kraft“

Ein Gespräch mit Oliver Weigel (BMI) und Markus Eltges (BBSR) zur Neuformulierung der Leipzig-Charta aus unserer neuen stadt:pilot-Ausgabe

Dr. Markus Eltges ist heute Leiter des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung. 2007 war er wichtiger Impulsgeber für die erste Leipzig-Charta und federführend für den Prozess ihrer Erarbeitung. Die aktuelle Neuformulierung der Charta begleitete er als Berater.

Dr. Oliver Weigel hat 2007, nach seinem Eintritt ins Bundesbauministerium, auch schon an der Erarbeitung der ersten Leipzig-Charta mitgewirkt. Bei ihrer aktuellen Neuformulierung ist er der zuständige Referatsleiter, der den Prozess leitet und moderiert.

Die Leistungen der ersten Leipzig-Charta von 2007 sind unstrittig. Warum ist eine Neuformulierung nötig?

Oliver Weigel:
Über die großen Herausforderungen, vor denen die europäischen Städte heute stehen, kann man viel sagen. Ich beschränke es hier erstmal auf Stichworte wie Migration und Klimawandel. Diese Themen waren in der alten Leipzig-Charta zwar auch schon enthalten, jedoch nicht so explizit, wie es heute geboten scheint. Wenn ich gefragt werde, warum es dringend eine Neuformulierung geben muss, gibt es aber vor allem einen Satz, der die Sache meines Erachtens besonders gut auf den Punkt bringt. Und der lautet: Ein Jahr nachdem wir die erste Charta beschlossen haben, kam das erste iPhone auf den deutschen Markt.

Warum war das so ein „Game Changer“?

Oliver Weigel:
Weil das Smartphone heute nicht nur für die rasante Digitalisierung unseres Alltags und des urbanen Lebens steht, sondern auch allgemein für die beschleunigten Zyklen der gesellschaftlichen Veränderung. Da es dabei zum Teil auch um krisenhafte Veränderungen geht, wirft das mit neuer Wucht die Frage der Resilienz von Städten auf. Es geht um die Frage, wie wir in Zeiten abnehmender Gewissheiten unsere gesellschaftliche Zukunft steuern wollen – wobei Städte bekanntlich eine entscheidende Rolle spielen. Dazu kann die Neue Leipzig-Charta einen wertvollen Beitrag leisten.

Inwiefern bietet die alte Charta dafür ein wichtiges Fundament?

Oliver Weigel:
Die Leipzig-Charta 2007 ist nach wie vor von großem Wert. Sie hat das Bewusstsein der Akteure geschärft, weil sie damals das erste internationale Dokument war, das sich in dieser Form mit Fragen der Stadtentwicklung beschäftigt hat. Inzwischen gibt es noch andere internationale Dokumente, etwa die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, ebenso auf UN-Ebene die New Urban Agenda, das Pariser Klimaabkommen und den Green Deal. Sprich: Das ganze politische Setting hat sich verändert. Auch darauf muss die Leipzig-Charta eingehen, daran muss sie anknüpfen.

Markus Eltges:
Wenn Sie nach dem Fundament fragen: Ohne die erste Charta würde es in Deutschland keine Nationale Stadtentwicklungspolitik in der Form geben – und auch in manch anderem der Mitgliedsstaaten nicht. Wir wollten damals ein politisches Dokument schaffen, um das Thema Stadt in der mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit zu stärken und dafür zu sorgen, dass es in allen Staaten stärker auf die nationale Agenda rückt. Es gab zu der Zeit vielerorts nur die Strukturfonds der Wirtschaftsministerien, die im Begriff waren, das Thema Stadt so nach und nach in ihr politisches Instrumentarium einzufügen. Aber es fehlte der gemeinsame politische Überbau, der von allen Mitgliedsstaaten getragen wurde. Die Charta forderte die Mitgliedsstaaten daher auf, sich in einem Mehr-Ebenen-Ansatz um Stadtpolitik zu kümmern.

Ist die Struktur, mit der Deutschland in der Folge seine Nationale Stadtentwicklungspolitik organisiert hat, in anderen Staaten ähnlich aufgebaut worden?

Markus Eltges:
Eine Plattform, wie wir sie in Deutschland geschaffen haben – mit Bundesregierung, Ländervertretern, kommunalen Vertretern – wurde so stringent in den anderen Mitgliedsstaaten meines Wissens nicht umgesetzt. Allerdings waren manche Länder aufgrund ihrer anderen staatlichen Ordnung in puncto nationaler Stadtentwicklung schon ganz anders aufgestellt als wir. Im zentralistischen Frankreich etwa gibt es traditionell einen massiven staatlichen Interventionsmechanismus in Bezug auf städtische Gebiete. Auch in Großbritannien hat man aus Erfahrung mit Strukturwandelprozessen Instrumente geschaffen, um ganze Quartiere von London aus zu unterstützen. Alles Dinge, die im föderalistischen Deutschland in dieser Form undenkbar wären. Deshalb hat man hier von Beginn an alle beteiligen Stellen von Bund, Ländern und Kommunen mit ins Boot geholt und das Kuratorium der Nationalen Stadtentwicklungspolitik gegründet, um alle Stakeholder von Beginn an einzubinden.

Trotz des guten Fundaments: Was unterscheidet die neue Charta von der Alten?

Markus Eltges:
Jedes politische Dokument ist immer auch ein Produkt seiner Zeit. Die erste Charta war sehr stark geprägt von dem Eindruck, dass es in einigen westeuropäischen Staaten damals soziale Unruhen in Vorstädten gab – vor allem in Frankreich und Großbritannien. Um der Vernachlässigung bestimmter Quartiere entgegenzuwirken, empfahl die Charta daher erstmal eine integrierte Stadtentwicklung. Dann hatten wir zu der Zeit gerade die Osterweiterung hinter uns und die neuen Mitgliedsländer stellten Fragen: Wo könnt ihr uns bei unserem Transformationsprozess in den Städten, insbesondere beim Wohnungsbau, unterstützen? Aus diesen Gründen ist die alte Leipzig-Charta in ihrer ganzen Begrifflichkeit noch viel mehr städtebaulich orientiert. Die neue Charta hingegen ist in deutlich höherem Maße gesellschaftspolitisch – mit Blick auf die urbanen Auswirkungen. In krisenhaften Zeiten wie diesen ist es nur logisch, dass das Thema Robustheit – von städtischer Infrastruktur, von städtischen Bildungssystemen – in so ein politisches Dokument einfließt.

Was sind denn die wichtigsten gesellschaftspolitischen Aussagen der neuen Charta?

Oliver Weigel:
Gefordert ist heute die „just“, „green“ und „productive“ City – als die drei Säulen der Nachhaltigkeit für städtische Politikansätze. Und als Querschnittthema darunter liegt die Digitalisierung. Weil alles, was wir in der just, green und productive City tun, damit verknüpft ist. Nachhaltige Mobilität etwa können wir ohne Digitalisierung gar nicht denken. Es kann ja nicht darum gehen, die unökologischen Verbrenner einfach nur durch Elektroautos zu ersetzen, die ebenso viel öffentlichen Raum fressen. Da braucht es intelligentere, digitalgestützte Lösungen. Zudem schreibt die neue Charta einige Grundprinzipien und Dimensionen guter städtischer Regierungsführung fest – womit sie weit über die alte Charta hinausgeht.

Welche wären das?

Oliver Weigel:
Es geht um Grundprinzipien, die allgemein klingen mögen, in der Praxis aber entscheidend sind: den integrierten Ansatz als Garant für mehr Gemeinwohlorientierung und Partizipation als Basis lokaler Demokratie. Und dann definiert die Neue Leipzig-Charta drei relevante Handlungsebenen: die Nachbarschaft des Quartiers, die Kommune und die gesamte städtische Region. Am Ende geht es darum, dass konkret Rechte übertragen werden, so dass Städte in die Lage kommen, auf allen diesen Ebenen Gemeinwohlorientierung umzusetzen. Etwa indem sie eine starke und aktive Bodenpolitik betreiben. Das ist alles sehr weitreichend.

Wie schafft man es, angesichts dieser komplexen Herausforderungen wirklich alle Mitgliedstaaten mitzunehmen und nicht beim kleinsten gemeinsamen Nenner zu landen?

Oliver Weigel:
Wir haben die Neuformulierung von vornherein als Multi-Stakeholder-Prozess angelegt. Wir haben insgesamt zirka 70 nationale Stakeholder und 70 europäische Stakeholder auf insgesamt zwölf Treffen zusammengebracht. Hilfreich war auch, dass wir sehr früh begonnen haben. Schon 2016 und 2018 hat es erste Treffen gegeben, der eigentliche Erarbeitungsprozess hat dann Anfang 2019 begonnen. So hatten wir, bevor mit Corona das große Videoconferencing Einzug erhielt, genug Gelegenheit, bestimmten Partnern auch mal in informellen Gesprächen bei einem Kaffee nahe zu bringen, worum es uns geht. Das ist ganz wichtig. So haben wir es sogar geschafft, das Wort Gemeinwohlorientierung in die Charta zu integrieren, in die Überschrift. Ich hätte erwartet, dass spätestens da manche Mitgliedsstaaten raus gewesen wären.

Es gibt heute beträchtliche politische Kontroversen zwischen den Staaten West- und Osteuropas. Wie wirkte sich das auf den Prozess der Neuformulierung aus?

Oliver Weigel:
2007 war es so, dass die neuen Beitrittsstaaten eher noch interessierte Zuhörer waren. Heute sind die politischen Rahmenbedingungen ganz anders und wir haben es etwa bei Ungarn und Polen mit sehr selbstbewussten politischen Akteuren zu tun. Deshalb sage ich ganz offen: Als wir angefangen haben, über die Neue Leipzig-Charta nachzudenken, hat mich das auch sehr umgetrieben: Was machen wir mit den Osteuropäern? Wie kriegen wir 27 Minister plus X dazu, am 30.11. 2020 in Leipzig einstimmig ein Dokument zu unterzeichnen?

Markus Eltges:
Dass eine solche Vereinbarung unter diesen geänderten politischen Rahmenbedingungen nun geklappt hat, kann man nicht hoch genug einschätzen. Wobei ich hinzufügen muss: Auch 2007 war es nicht selbstverständlich, dass die osteuropäischen Kolleginnen und Kollegen die erste Charta mitgetragen haben. Nicht nur, weil sie damals noch ganz andere Sorgen hatten, sie hatten auch noch einen völlig anderen Blickwinkel auf Stadtentwicklung. Sie kamen aus einer Zeit des zentralisierten Staatswesens und waren erstmal nicht so begeistert über ein Dokument, das auch wieder von übergeordneter Ebene kam. Auch da waren wir gefordert, die dahinterstehende Intention zu erläutern.

Wie entfaltet so eine Charta ihre Wirkkraft? Besteht nicht immer die Gefahr, dass es bei schönen Worten bleibt?

Oliver Weigel:
Die Leipzig-Charta ist eine Selbstverpflichtung, die gewinnt ihre Bedeutung durch politisches Handeln. Man hat bewusst auf verpflichtende Übersetzungsinstrumente oder kontrollierbare Indikatoren verzichtet. Das ist zugleich der Charme dieser Charta: Sie überschätzt sich nicht, aber entfaltet ihre Wirkung dennoch – und zwar dadurch, dass man sich heute bis in die Kommunen hinein auf sie berufen kann. Das war nicht von Anfang an so. Als Hüter der Charta mussten wir immer wieder auf ihre Bedeutung hinweisen, hatten sie bei allen internationalen Kooperationen in den Memoranden und haben unser Handeln damit begründet. Das hat etwas bewirkt. Inzwischen diskutiert man auch auf internationalen Konferenzen über den Stand der Leipzig-Charta. Zudem sorgt diesmal ein eigenes Implementation Document dafür, dass es in den kommenden Ratspräsidentschaften noch mehr Kontinuität gibt und mit thematischen Partnerschaften bestimmte stadtpolitische Themen gezielt weiterentwickelt werden.

Eine zentrale Formel der Charta, die auch in ihrem Titel steht, ist die „transformative Kraft der Städte“. Was kann der einzelne Bürger dazu beitragen?

Oliver Weigel:
Wir alle verkörpern diese transformative Kraft. Denn jeder Bürger und jede Bürgerin macht täglich Stadtentwicklung. Zum Beispiel, wenn wir entscheiden, ob wir den neuen Monitor für unseren Computer online bestellen oder ob wir in die Stadt fahren, um ihn dort zu kaufen. Damit geht es los. Weiter geht es damit, dass wir alle eingeladen sind, aus der Zivilgesellschaft heraus an Stadtentwicklung zu partizipieren. Wir nennen das Co-Creation, also Miteigentümerschaft an Projekten durch Akteure, die nicht zu den politischen Zirkeln gehören. Darauf sind ja alle Maßnahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik ausgerichtet und um das auszuprobieren, haben wir eine ganz neue, viel kleinteiligere Förderstruktur entwickelt. Dabei lassen wir den einzelnen Initiativen bewusst große Freiräume. Wir wollen wissen, was in den städtischen Quartieren gerade passiert und erwarten, dass die Projekte partnerschaftlich, innovativ und übertragbar auf andere Quartiere sind.

Inwiefern ist die Corona-Pandemie in den letzten Monaten noch als Thema in den Prozess der Neuformulierung eigeflossen?

Die Resilienz von Städten war auch vor Corona schon zentral und wir haben eine eigene thematische Linie, die sich nur mit dem Thema Stadt und Gesundheit beschäftigt. Durch Corona ist das Resilienz-Thema dann noch mehr in den Mittelpunkt gerückt. Denn es ist ja nochmal sehr deutlich geworden, dass benachteiligte Quartiere von einer Pandemie und einem Lockdown besonders hart getroffen werden. Wir müssen uns also weiterhin gut um sie kümmern.

Das Gespräch führten Natascha Roshani und Oliver Geyer für die Ausgabe 18 des Magazins stadt:pilot.

stadt:pilot 18 – Das Magazin zu den Pilotprojekten der Nationalen Stadtentwicklungspolitik